Explosion eines Gefahrgut Tankzuges
Höchster Kreisblatt, Montag, 9. Juli 2001
Chemie-Unglück - Was war im Tank?
Von Jürgen Dehl
Hattersheim. War das eine Bombe? Ein dumpfer, lauter Schlag schreckt am Samstag, gegen 20.40 Uhr, die Anwohner der Schützenstraße auf. Schnell die Feuerwehr rufen. Doch es ist kein Durchkommen. Die Leitungen, auch die der Polizei sind besetzt. Die Anwohner beruhigen sich: "Es hat schon jemand Alarm geschlagen." Minuten später stehen Polizisten vor der Tür. Die Anwohner werden aufgefordert ihre Wohnungen zu verlassen. Zum Glück ist die Schützenstraße klein. Drei Ehepaare, eines mit Kleinkind, werden evakuiert. Der Deckel einer Tankkammer eines Gefahrgut-Transporters war in die Luft geflogen. Der Transporter stand in der Halle einer Spedition in der Schützenstraße. Der Deckel durchschlug das Dach. Giftige Dämpfe traten aus, machten sich bei vielen Menschen beißend im Nasen- und Rachenraum bemerkbar. Unklar ist, was die Gegend verpestete. Aber auch gestern Abend gab es keine Sicherheit, ob sich tatsächlich das in den Tankkammern befand, was deklariert worden war.
Zurück zum Samstag. Das Magistratsmitglied Hans Schuch wird informiert. Er setzt sich ans Telefon und sucht Hotelzimmer. Im Schwimmbad-Hotel kommen die Leute unter. Weil noch immer nicht bekannt ist, was da die Augen tränen lässt, wird über größere Evakuierungen nachgedacht. Nur ein paar Meter weiter, in der Sindlinger Straße, ist ein einsam stehendes Hochhaus. Die Polizei schätzt, dass dort 600 Menschen wohnen. Von irgendwoher kommt die Nachricht, es handle sich um Phenol-Dämpfe und die würden sich nicht weiterverbreiten. Von der Massen-Evakuierung wird abgesehen. Die böse Überraschung am Sonntagmorgen, etwa 9.30 Uhr. Die Feuerwehr stellt fest, dass sich die Temperatur einer Tankkammer des Transporter beträchtlich erhöht hat. Sofort wird erneut Alarm geschlagen. Die Stadt richtet ein Krisentelefon ein. Der Hessische Rundfunk gibt Warnmeldungen durch und fordert die Anwohner der weiteren Umgebung auf, ihre Fenstern geschlossen zu halten und das Haus nicht zu verlassen.
Die BASF schickt aus Ludwigshafen einen Roboter, der den Tank öffnen soll. Doch es ergeben sich technische Schwierigkeiten. Der Roboter kann nicht eingesetzt werden. Am frühen Nachmittag klettern zwei Spezialisten auf den Tankzug und öffnen die Zuführung zum vierten Tank, damit sich eventuell angesammelte Dämpfe und Überdruck gezielt entladen können. Es entweicht weißgrauer Rauch. Um ihn niederzuhalten wird er von den Wehrleuten mit Wasser berieselt. Messungen ergeben, dass die Atemluft in der Umgebung kaum belastet ist. Das überzeugt Erste Stadträtin Karin Schnick nicht. Sie will abschließende Messungen abwarten bis die Evakuierungen aufgehoben werden: "Gesundheit geht vor." Die Politikerin rätselt über Ungereimtheiten. Offenbar weiß weder Ordnungsamt noch sonst irgendwer, was auf dem Speditionsgelände geschieht. Zudem soll es dort, so Schnick, auch noch einige Subunternehmer geben. So stellt sie sich die Frage: "Wer trägt dort die Verantwortung. Angeblich weiß keiner was." Beeindruckt ist die Stadträtin von den rund 300 Helferinnen und Helfern. Ein älterer Herr wandert ziellos an den Absperrungen herum: der Fahrer des Transporters. Seine Ladung hatte er in Wiesbaden bei Kalle abgeholt. Die Fracht war für ein Werk in Braunfeld in der Schweiz bestimmt. Dort angekommen, hieß es, die Tanks seien zu warm. Dies sei ein Zeichen für verminderte Qualität. Der 60 Jahre alte Fahrer, er verschwieg seinen Namen, kutschierte die explosive Mischung offenbar seelenruhig nach Hattersheim. Für die dort ansässige Spedition arbeitet der Mann seit "fast 15 Jahren". Zum Unternehmen weiß er nur zu sagen: "Die transportieren alles was flüssig ist." Im Gewusel Kriminalhauptkommissar Helmuth Klinger (Präsidium Wiesbaden). Er berichtet, dass in der ersten Tankkammer - jene die am Samstag hoch ging - acht Tonnen Phenol und in der vierten vier Tonnen Phenol gewesen seien. Die Kammern zwei und drei waren leer. Erneut werden Fragen zur wirklichen Ladung laut. Ein Chemiker sei am Ort gewesen, so Klinger, der behauptet habe, dass die geschilderten Reaktionen bei Phenol nicht möglich seien. Die Untersuchungen werden heute fortgesetzt. Bereits gestern begann das Säubern der Gegend. Ein Feuerwehrmann: "Das wird Hunderttausende kosten."